Ein Land, von den Karten gelöscht: junge literarische Stimmen aus Gaza

Begegnet sind sie sich nur im Internet – die jungen Autorinnen und Autoren aus dem Gazastreifen und die amerikanischen Profi-Literaten, die ihnen sprachlich Schützenhilfe leisteten. Aus der Zusammenarbeit entstand ein Mosaik aus Gedichten und Prosatexten, die Streiflichter auf das bedrängte Leben in Gaza werfen.

Martin Zähringer
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Leben wollen sie trotz allem: Jugendliche am Strand bei Gaza-Stadt. (Bild: Mohammed Salem / Reuters)

Leben wollen sie trotz allem: Jugendliche am Strand bei Gaza-Stadt. (Bild: Mohammed Salem / Reuters)

Ein warmer Sommerabend, offene Fenster, Stimmen aus dem Hofgarten, ein junger Vater plaudert hingebungsvoll mit seinem Kind. Das Kind gibt die Themen in Babysprache vor, hin und wieder übertönt von einem Flugzeug. Dann wird das Gespräch etwas lauter, bis die abendliche Startphase am Flughafen ihr Ende findet und die Familienidylle in den normalen Lautbetrieb zurückkehrt.

Nicht so in Gaza. Über Gaza dröhnen permanent Kampfjets und Jagdflieger und nachts die Drohnen: «Drohnen fliegen am Himmel / und in meinem Kopf // Sie rauben mir den Schlaf, bringen Schlaflosigkeit. / Mein Land ist / von den Karten gelöscht / wie ein Fehler / aus dem Gedächtnis der Welt.» Das schreibt der Dichter Basman Derawi in einem Internet-Post vom 22. September 2017. Zusammen mit rund fünfzig weiteren Gedichten und kurzen Prosastücken aus Gaza, die ursprünglich als Blog-Einträge im Rahmen des Schreibprojekts «We Are Not Numbers» entstanden, ist sein Text nun in der gleichnamigen Anthologie zu lesen.

Schranken ringsum

Ahmed Alnaouq wendet sich gleich direkt an eine Drohne und kommt nach einigen freundlichen Floskeln – «Liebe Freundin, . . . ich kenne dich schon lange, seit 2008» – zu diesem Schluss: «Wir haben die Schnauze voll, weil du nicht nur viele unserer Häuser zerstört hast, sondern uns auch in unseren Träumen verfolgst. / Wir haben die Schnauze voll, weil du seit 2008 mehr als 900 Bewohner des Gazastreifens umgebracht hast, unter anderem meinen Bruder und fünf gute Freunde.» Und dann wird gefordert, dass sie wenigstens für eine Nacht endlich mal verschwinde, damit der Mensch in Ruhe schlafen kann.

Ruhe allerdings ist schwer zu finden in Gaza, das seit 2008 von den Israeli mit einer Blockade belegt ist. Das Leben – nicht viel mehr als ein Überleben – unter diesen Bedingungen ist Thema der Beiträge. Junge Männer wie der 1988 geborene Basman Derawi und der fünf Jahre jüngere Ahmed Alnaouq werden so schnell auch nicht mit einem Baby plaudern, jedenfalls nicht mit ihrem eigenen. Sie können nicht heiraten, weil der geringe Lohn nicht für ein Hochzeitsfest und die 7000 Dollar Brautgeld reicht. Dieses Schicksal teilen sie mit vielen in Gaza, wo die Arbeitslosenquote bei 52 Prozent liegt, und gedankliche oder kulturelle Anstösse aus der Aussenwelt werden sogar im Austausch via Internet knapp, wenn es nur wenige Stunden am Tag Strom gibt.

Auch Aus- und Einreise sind strikt reguliert; so ist die junge Literaturwissenschafterin Doaa Mohaisen eher eine Ausnahme. Sie war für ein Semester Gaststudentin in Montana und wirft einen kritischen Blick auf das Bildungssystem in Gaza: «In Gaza bringt man uns nicht bei, eigenständig zu denken und auf unsere Denkfähigkeit zu vertrauen.» Das übliche Wissensmodell beruhe auf schwarz oder weiss, falsch oder richtig. In der Literatur hat sie selbst zwar einen anderen Weg entdeckt, aber da es in Gaza nicht üblich sei zu lesen, nicht einmal für Literaturstudenten, würde Literatur wenig ändern.

Am Ende ihres Blog-Eintrags steht diese Notiz: «Heute bringen mich die Schönheit der klassischen Musik oder auch Opern zum Weinen. Ich hoffe, dass die Bewohner von Gaza Musik und Kunst eines Tages schätzen lernen. Momentan herrscht bei uns aber der schiere Überlebenskampf. Wenn mit einer Sache nichts zu verdienen ist, dann ist sie nichts wert.»

Mit Worten kämpfen

Anstelle des internationalen Kulturaustausches gibt es einstweilen den Schlagabtausch zwischen der Hamas und den israelischen Streitkräften. Aber es gibt auch dieses Schreibprojekt, das die Journalistin Pam Bailey aus Washington ins Leben gerufen hat. Sie arbeitete 2008/09 in Gaza – mittlerweile ist ihr die Einreise verboten – und stellte dabei fest, dass dort zwar überall Englisch unterrichtet wird, weil man die Sprache für die Jobs bei den internationalen Organisationen vor Ort braucht, aber dass die Unterrichtenden keine Muttersprachler sind.

So organisierte sie einen Unterstützerkreis, der über die Website www.wearenotnumbers.org angehenden englisch schreibenden Autoren muttersprachliche Mentoren vermittelt; das können Lehrer sein, Journalisten, Schriftsteller oder Blogger, also Profis aus der schreibenden Zunft. Und die Jungautoren kommen zu überzeugenden literarischen Ergebnissen, das jedenfalls lässt sich aus der deutschen Übersetzung dieser Anthologie schliessen: eine bedrückende und berührende Momentaufnahme aus dem geschundenen Gaza, ein vielstimmiger Beweis, dass man auch mit Worten gegen die Belagerung kämpfen kann.

We Are Not Numbers. Junge Stimmen aus Gaza. Bilder von Malak Mattar. Aus dem Englischen von Lorenz Oehler. Mit einem Vorwort von Pam Bailey und einem Essay von Alice Rothchild. Lenos-Verlag, Basel 2019. 173 S., Fr. 29.–. (Im Oktober finden Lesungen aus dem Buch u. a. in Bern, Luzern und Zürich statt.)